Wie ich zum Milchmädchen wurde

Als ich vor Jahren mit meinen beiden Hunden in das kleine ostwestfälische Dorf zog, ahnte ich nichts von der fundamentalen Wende, die mein fortan Leben nehmen sollte.

Ich war hierhergezogen, da ich ortsunabhängig und selbstständig arbeite und lediglich eine funktionierende Internetverbindung und einen Autobahnanschluss in erreichbarer Nähe benötige. Und für mein Seelenheil unverzichtbar sind Wald, Wiesen und Felder.

Schicksalhafte Begegnung im Morgengrauen

Die Liebe meines Lebens lernte ich ausgerechnet in diesem kleinen Dorf an einem kühlen, nebeligen Oktobermorgen kennen. Es war Sonntag und ich war als überzeugte Frühaufsteherin gegen sechs Uhr morgens mit meinen beiden Hunden unterwegs.

So lief ich am Dorfrand entlang Richtung Feldflur und war verblüfft als neben mir ein Wagen langsamer fuhr. Es war ein alter Toyota-Kombi, der sicherlich vor 20 Jahren seine beste Zeit gehabt hatte. Jetzt aber starrte er vor Matsch und Dreck, quietschte zum Gotterbarmen, war ungeheuer verbeult und der Blick ins Wageninnere zeigte mir, dass sein Besitzer bestens ausgerüstet war, um spontan Zäune zu flicken, Bäume zu fällen und größere Reparaturarbeiten zu machen. Es war eine etwas gammelige, rollende Allround-Werkstatt. Beim Bremsen löste Zischen und Klappern das Quietschen ab und ein Mann unbestimmten Alters mit wildem, grauem Lockenhaar reckte sein Haupt aus dem Fenster und raunte mir zu: „Das geht klar.“

Milchverkauf der anderen Art

Das ist echt krass, dachte ich mir verblüfft. Ich kannte den Fremden in dem auffälligen Fahrzeug nicht und war mehr als irritiert, dass er davon auszugehen schien, dass zwischen uns was auch immer klar zu gehen habe. Der Mann wirkte sympathisch, also fragte ich vorsichtig: „Entschuldigung, aber bitte was geht klar?“ Und der Lockenkopf raunte mir im Vorbeirollen zu: „Das mit der Milch.“ Dann schepperte er weiter.

Das Dorf kennt keine Geheimnisse

Ich grübelte, was der Mann wohl angesprochen hatte und kam schnell darauf, dass er der Bauer sein müsse, der auch vom Tank weg Milch verkauft. Ich hatte meinen Nachbarn gefragt, ob man im Dorf Milch direkt vom Bauern beziehen könne und der hatte nur abgewinkt. Aber irgendwie hatte sich diese Frage wohl durch die Kommunikation des ganzen Dorfes getunnelt und war beim Empfänger angekommen. Ein Phänomen, das ich noch häufig erleben sollte.  

Bäume im Morgennebel
Morgennebel verzaubert die Natur.

Der Nebel lässt die Elfen tanzen

Fein, dachte ich mir. Dann sollte ich dem Bauern wohl mal einen Besuch abstatten, um Details zum Milchverkauf zu erhalten. Inzwischen schob sich der Bodennebel sacht durch das Tal, verdichtete sich zu bizarren Gebilden und ließ eine Ahnung erkennen, warum Menschen früherer Zeiten an Elfen und Kobolde geglaubt hatten. So wie die Nebelfetzen im leichten Wind tanzten, durchstrahlt von der langsam schwach durchbrechenden Sonne, wurde ich ganz andächtig und war meinem Schicksal dankbar, dass es mich an diesen Ort geführt hatte.

Liebe auf den ersten Blick: Kälbchen!

Kuhherde mit Blick ins Tag
Weidegang für die ganze Herde.

Entlang meines Weges tauchte ein Kuhstall auf und ich sah das angeschlagene Auto des neu kennengelernten Bauern. Also hielt ich Ausschau nach ihm, um die Details des Milchkaufs zu klären. Die Hunde rannten aufgeregt hechelnd zu dem Stall, vollkommen aus dem Häuschen über die zahlreichen neuen Gerüche. Den Grund für die hündische Aufregung sah ich auf der den Stall überragenden Buche sitzen: Zwei schwarze Katzen thronten dort oben, schaukelten sacht im Morgenwind auf einem Ast und betrachteten die neugierigen Hunde mit hochmütigen Blicken.  Der Bauer fütterte zwei Kälber, die in kleinen Hütten mit Auslauf lebten und gierig Milch aus Eimern mit einem Gumminuckel soffen. Als ich die Kälbchen sah, wurde mir buchstäblich warm ums Herz. Kleine, ungelenke, ungeheuer großäugige Geschöpfe mit Wimpern so lang, dass jede Frau vor Neid erblasste.

Bullenkälbchen im Milchviehstall

Ich hatte spontan den großen Wunsch, diese kleinen Wesen zu streicheln und zu umsorgen. Wahrscheinlich brach sich erstmals in meinem über 40jährigen Leben ein fehlgeleiteter Mutterinstinkt durch. „Meine Güte sind die niedlich!! Wie alt sind die denn?“ fragte ich den Bauern, an den ich herangetreten war und ich unterdrückte den brennenden Wunsch, die Kleinen sofort zu adoptieren. „Die sind eine Woche alt. Leider Bullenkälber. Morgen holt sie der Holländer.“ Zu ausschweifenden Erklärungen neigte der Mann offensichtlich nicht.

Früher lebten unsere Kälber in den ersten beiden Lebenswochen häufig auch im „Iglu“.

Was ist ein Kälbchen wert?

„Und was machen die in Holland?“ fragte ich irritiert. „Na, die gehen in die Mast. Als Milchbauer kann ich mit Bullenkäbern nichts anfangen. Und der Preis ist auch im Keller. Wenn ich Glück habe, bekomme ich pro Tier 50 Euro.“ Ich starrte die kleinen Wesen an und überlegte, dass mein Dackel mehr als das 10-fache gekostet hatte. Dann fuhr der Bauer fort: „Das ist wahrscheinlich das letzte Mal dass sie die Sonne sehen. Die kommen in einen Maststall, werden dick gefüttert und dann geschlachtet. Tut mir jedes Mal leid, aber behalten kann ich sie nicht.“

Hund mindestens zehnmal teurer als ein Kalb

Ich war wie vor den Kopf geschlagen und wie immer, wenn ich emotional aufgewühlt war, verlor ich jegliche Eloquenz. „Ach die armen Kerlchen. Aber warum sind die denn so billig? Da ist ja jeder Hund mehr Wert!“ „Ja, das ist mir klar. Aber wir reden von Weltmarktpreisen und die rotbunten Kühe, die ich habe, sind halt keine Mastrasse und bringen beim Schlachten nicht so viel auf die Waage wie Fleischrinder. Außerdem schwankt der Preis nach Saison und Angebot. Früher habe ich manches Mal ein paar hundert Mark pro Tier bekommen. Da hatte ich dann zumindest die Besamungskosten und das Futter für die Kuh wieder drin. Aber zurzeit ist mit der Landwirtschaft nicht viel Geld zu verdienen. Auch die Milch bringt grad mal 30 Cent pro Liter. Das deckt noch nicht mal meine Erzeugerkosten. Ich hoffe, dass das bald mal wieder besser wird.“

Milchkannenkauf bei E-Bay

Dann bestätigte er mir, dass ich von ihm Milch kaufe könne. Ich sollte mir die gewünschte Menge aus dem Tank nehmen und das Geld auf einen Schrank legen, der in der Milchkammer stand.

Zurück in meinem neuen zuhause bestellte ich eine Milchkanne aus Emaille. Als meine Milchkanne aus Emaille eingetroffen war, ging ich bei meinem Spaziergang wieder am Stall vorbei und traf diesen ohne den dazugehörigen Bauern an. „Nun, das Milch abschöpfen wird ja nicht so schwer sein“, dachte ich mir. Allerdings stellte ich fest, dass die Milch ziemlich tief unten in dem Tank war und versuchte mit zunehmender Verzweiflung Milch zu schöpfen. Nach mehreren Anläufen entglitt mir die Kanne und schwamm in der Milch. Draußen kündigte Quietschen und Scheppern die Ankunft des Bauern an. Als er die Milchkammer betrat sagte ich peinlich berührt: „Hab meine Kanne verloren. Tut mir leid.“ Der Bauer blieb gelassen, nahm einen Holzblock, schob ihn zum Tank und stellte sich drauf. Derartig erhöht, konnte er sich tief in den Tank beugen und mir die gefüllte Kanne reichen.

Milchmann und Milchmädchen

Leider stellte sich heraus, dass ich tatsächlich unfähig war, meine Kanne selbstständig zu füllen. Entweder entglitt sie mir oder ich fing nur ein paar Tropfen ein. Als ich wieder einmal über dem Tank hing, um meine Kanne einzufangen, betrat der Bauer wieder die Milchkammer, warf mir einen langen Blick zu und sagte: „Stell mir doch einfach die Kanne hin. Ich bringe sie Dir dann im Laufe des Tages vorbei.“

Auch wenn ich mich ein bisschen schämte, hielt ich das für die beste Lösung. Und so kam es, dass ich– wenn er mir die Milch brachte – „Hallo Milchmann“ sagte und er „Hallo Milchmädchen“ antwortete. Und das blieb auch so, als wir zwei Jahre später heirateten.

Heute leben die Kälber in Gruppen mit großem Auslauf.